Die Namen der Akupunkturpunkte, Bindestriche der Psychosomatik


| Den Geist verwurzeln, Band 1
| Josef Viktor Müller

Den Geist verwurzeln – ein integriertes Verständnis der Namen von Akupunkturpunkten, jenseits von entgeistigter Körperlichkeit und körperloser Spiritualität.
Ein multidimensionales Verständnis der Punktenamen hilft die Evidenzgestützte Tyrannei der Schulmedizin, welche die Punkte auf ihre körperlichen Funktionen reduzieren will, ebenso hinter sich zu lassen wie es auch bloße philosophische Spekulation verhindert.
Stattdessen können wir Akupunkturpunkte benutzen um die Pole von Körper und Seele/Geist aufeinander bezogen zu halten. Die „Verwurzelung des Geistes“ bedeutet so ein Herabwachsen in die Körperlichkeit und gleicht die Einseitigkeit einer nut auf Aufstieg gerichteten Auffassung von Entwicklung aus. So dient die Akupunkturnadel als „Pfeiler der Seele“ zur Verkörperung von Bewusstseinszuständen. Derart von der Beschränkung auf die körperliche Wirkung befreit, dienen die Akupunkturpunkte als Bindestriche der Psycho-Somatik.

VorwortDrei Kapitel des Ling Shu oder Nadelklassiker tragen den Titel Ben, Wurzel. Damit ist eine dreifache Verwurzelung oder Verankerung der Akupunktur gemäss dem Vorbild der drei Kräfte Himmel-Erde-Menschangedeutet. Kapitel 8 Ben Shen, Kapitel 2 Ben Xue und Kapitel 47 Ben Zang betonen, dass Shen/Geist, Xue oder Qi-Höhlen (Akupunkturpunkte) und Zang (oder Fu), d.h. die Organe die drei Wurzeln darstellen, wobei jedoch eine natürliche Ordnung gegeben ist, denn wie Kp. 8 des Ling Shu betont: "Das oberste Gebot bei jeder Nadelung ist die Verankerung in (oder des) Shen".

In einer Zeit des mittelmässigen Denkens, das sich auf rein instrumentale Intelligenz beschränkt und die Dinge beherrschen will ohne ihre Verbundenheit zu berücksichtigen, werden solche zentralen Aspekte der Akupunktur immer mehr als historische Marginalie ausgeklammert.

Sogenannte "Wissenschaftliche Akupunktur" versucht Licht in dieses "primitive" Dunkel zu bringen, auf der Basis eines medizinischen Weltbildes, das auf der mechanistischen Weltanschauung des 18. Jahrhunderts beruht und dessen enge Grenzen von der wissenschaftlichen Entwicklung selbst aufgezeigt werden. Die Naivität solch wissenschaftlicher Untersuchungen, die alles auf objektivierbare Fakten zurückführen möchte, gleicht der des Kosmonauten Gagarin, als er beim ersten Weltraumflug den berühmten Satz aussprach: "Hier oben sehe ich keinen Gott".

Shen/Geist auch manchmal als Gott übersetzt, wird sich immer einer solch rein materialistischen und objektivierbaren Perspektive entziehen, da er/sie eine innerliche Dimension darstellt, die erfordert, nach ihren eigenen Gesetzen erforscht zu werden, d.h. sie muss subjektiv erfahren werden. Weil dieser Bereich nicht mit den Methoden der heutigen mechanistischen Wissenschaft erforscht werden kann, heisst das noch lange nicht, dass es ihn nicht gibt. Es heisst nur, dass die Untersuchungsmethoden dem Untersuchungsgegenstand angepasst sein müssen. Wie das Ling Shu Kp. 1 bemerkt, "es kann nicht gelehrt, aber es kann erfahren werden."

Damit dies jedoch nicht reine Philosophie bleibt, brauchen wir ein Medium, das es ermöglicht, Geist/Shen in verkörperbarer Realität zu manifestieren. Dieses Medium stellt Qi dar und die Qi-Höhlen oder Akupunkturpunkte sind daher das Interface, Uebertragungsorte, zwischen der Körper-Geist-Dualität, zwischen Himmel und Erde. Sie tragen Anteile beider Bereiche in sich, daher haftet ihnen etwas Mysteriöses an, obwohl sie handfeste Wirkungen erzielen. Akupunkturpunkte lassen sich nicht auf Nervenrezeptoren oder Endorphinwirkungen reduzieren, sonst begrenzt man das Wunderbare an ihnen, das im Begriff Ling Shu, "Pfeiler der spirituellen Kraft" oder "Pfeiler der Seele" ausgedrückt ist. Dieses Unbegreifbare als Placebo Wirkung zu erklären, bedeutet nur, wie es so oft bei medizinischen Begriffen geschieht, einem Umstand, den man nicht rein intellektuell begreifen kann, einen Namen zu geben. Gegen Wissenschaft gibt es nichts zu sagen, wohl aber gegen Wissenschaftlichkeit, die ihre Vorgehensweise auf alle Bereiche der Realität ausweiten will. Dieses Buch will zu einer Atmosphäre beitragen, in der Geist als eigene Realität anerkannt wird, unabhängig von neurohormonalen Mechanismen des Gehirns, die unser Leben durch die Krise als Chance kreativ umgestalten kann. Andernfalls dringt der schulmedizinische Imperalismus immer weiter in die Akupunktur vor und verformt eine der schönsten Formen der Heilkunst zu einer reinen Heiltechnik, die nicht in der Lage ist Sinngebung zu erzeugen.

Zum Hilfsinstrument im Arzneikoffer der mechanistischen und materialistischen Medizin degradiert, verlieren wir die Wurzel der Akupunktur im Geist aus dem Auge und tragen durch solch reduktionistische Praxis zur Aufrechterhaltung des klassischen Arzt-Patienten-Bildes bei. Statt durch bessere Körper-Geist-Verbindung mehr Sinn zu erfahren, erlebt sich der Patient als Inhaber eines Zang Fu-Syndromes, das nichts mit seinem Charakter zu tun hat und für das er die Verantwortung einem Spezialisten übergeben kann. Dass dies für beide Seiten bequemer ist sei dahingestellt, aber ohne den oft schwierigen emotionalen Prozess, das in Krankheit blockierte Potential wieder für sich in Anspruch zu nehmen, erfährt der Patient die Krankheit als sinnlosen Schicksalsschlag und der/die Behandelnde verkümmert in geistloser Routine von standardisierten Akupunkturformeln, die nur die rein körperliche Dimension der Erkrankung berücksichtigen.

Die Verwurzelung im Geist bringt uns die Inspiration, die Lebendigkeit und die Begeisterung, um den Menschen in seiner Gesamtheit zu sehen: Weder den Körper als Gefäss des Geistes ausser Acht zu lassen, noch die spirituelle Dimension einer Krankheit durch Transmission in die verschiedenen Leitbahn-Systeme zu beachten und zu verstehen, damit wir die handwerkliche Dimension der Akupunktur als Mittler zwischen Körper und Geist nutzen können.

| Josef Viktor Müller, April 200

Verlag Müller & Steinicke München, 2001
ISBN 3-87569-178-4